Wer schreibt hier: Siegbert Rudolph
von Der Lesekoch
Dieser Grund ist Thema des vorhergehenden Blogs von Dina Beneken: „Warum die Handschrift in der Grundschule der Schlüssel zum schulischen Erfolg ist“. Wer handwerkliche Probleme mit der Handschrift hat, der hat meist auch größere Probleme mit der Rechtschreibung. Das Gehirn muss sich beim Schreiben darum kümmern, wie die Buchstaben zu Papier zu bringen sind. Da bleibt zu wenig Kapazität für die anderen Aufgaben. Das Gehirn ist überfordert.
Auch die Rechtschreibung sollte ohne Gehirnakrobatik zu bewältigen sein, damit der Kopf frei für die Textgestaltung ist. Schreibt man ohne automatisierte Rechtschreibung begeistert und schwungvoll einen tollen Text, dann zerstört die miserable Rechtschreibung jede Freude beim Leser.
Aber, kann man denn die Rechtschreibung automatisieren? Ich muss sehr selten, fast nie über Rechtschreibung nachdenken. Ich habe die vor vielen, vielen Jahren nämlich gründlich gelernt. Die Rechtschreibung wird von den Kultusministerien nach wie vor als sehr wichtig eingestuft. Aber wird sie immer noch gründlich gelehrt? Die folgenden Ausführungen des Germanisten Michael Becker-Mrotzek, Leiter des Mercator Instituts für Sprachförderung in Köln, begründen meine Zweifel.
„In der Tat ist das Grundprinzip unserer Sprache, Laute in Schriftzeichen zu übersetzten. Das ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist, die orthographischen Regelmäßigkeiten zu nutzen. Die tollste Erfindung im Rahmen der Schrift ist die Erfindung des Leerzeichens, mit dem man ein Wort von anderen abgrenzen kann. Das muss man lernen. Dann muss man noch wissen, dass Hauptwörter großgeschrieben werden und dass einige Wörter anders ausgesprochen als geschrieben werden. Wenn man Hund sagt, hört sich das d wie ein t an. Hunde spricht man mit d und schreibt es mit d. Das ist eigentlich schon die ganze Orthographie, die man zu beachten hat. Den Einblick in diese Systematik muss man den Kindern vermitteln, anstatt ihnen weiszumachen, die deutsche Orthographie sei so unregelmäßig. Das Gegenteil ist der Fall.“
In diesem Zitat, das aus einem Artikel in der FAZ vom 24.11.22. stammt, kommt das ganze Elend der heutigen Rechtschreiblehre zum Ausdruck. Denn die erwähnte Systematik wird nicht systematisch erschlossen und sie ist auch nicht ohne weiteres ersichtlich.
Die deutsche Sprache ist nicht lautgetreu, sie erschein nur im Vergleich mit Französisch und Englisch lautgetreuer. Ich habe praxisorientiert aufgelistet, auf wie viele Arten einzelne Laute in unserer Sprache verschriftet werden.
Beispiele: Das e in Esel klingt so wie ee in Beet oder eh in Ehre. Das e in Bett klingt wie da ä in hält. Wieder anders klingt das e in Hase. Und das ff in Affe klingt wie das v in Vogel oder das F in Fall oder das Ph in Physik.
Um vom Gehörten zur Verschriftung zu kommen, muss man Regeln lernen.
Das Eszett ist übrigens ein schönes Beispiel dafür, dass es bei der Rechtschreibung nicht auf das Hören ankommen muss. Ich kann diesen Laut nicht von einem s unterscheiden. Und ich spreche das Eszett auch nicht, wie viele andere auch. Trotzdem schreibe ich alle Wörter mit Eszett richtig und schreibe kein Eszett, wo es nicht hingehört.
Die Rechtschreibregeln fangen nicht alle Schreibungen auf, bei denen das Wort anders geschrieben als gesprochen wird. Nehmen wir zum Beispiel das Wort Nagel. Das hört man meist kein e. Eine Regel dafür könnte lauten:
An Dialekte wurde bei diesen Regeln gar nicht gedacht. Hinzu kommen weitere Rechtschreibregeln, die aber weniger bis nichts mit der Lautverschriftung zu tun haben, wie die Großschreibung, die Zusammenschreibung, die Substantivierungen von adverbialen Bestimmungen, die höfliche persönliche Anrede sowie die Regeln für den Text- und Satzanfang. Selbst so einfache Regeln wie die Großschreibung des Text- und Satzanfangs erfordern Übung, wie ich später noch zeigen werde.
Trotz dieser vielen Regeln bleiben viele Merkwörter. Als ich im Ruhestand die Rechtschreibregeln lernen musste, um meinen Schülern zu helfen, haben mich eine kurze Zeit die vielen Ausnahmen immer wieder verunsichert. Wenn ein Kind eine Regel auf ein Wort anwendet, das eine Ausnahme ist, dann sprechen die Pädagogen von Übergeneralisierung. Das halte ich für fragwürdig. Richtig wäre, zuerst die Regelwörter zu üben, bevor man zu den Ausnahmen kommt. Aber das geht nicht, wenn man zu früh freie Texte schreiben lässt.
In der folgenden Aufstellung zeige ich durch die gelbe Markierung, welche Lautverschriftungen keinen Regeln unterliegen:
Die Tabelle berücksichtigt nicht die Lmnr-Regel
denn die hat so viele Ausnahmen, dass es dafür eine eigene Regel gibt, die aber auch nicht alle Fälle abdeckt. Das stumme h ist eine besondere, althergebrachte Vokalschreibung, die den Vokal als gedehnt kennzeichnet, weshalb das stumme h als Trennungs-h sprachlich nicht zu begründen ist. Wenn es das stumme h nicht gäbe, würde sich an der Aussprache der Wörter nichts ändern.
Bei Prof. Günther Thomé kann man nachlesen, dass 90 Prozent der Laute mit Basisgraphemen verschriftet werden, 10 Prozent der Laute werden abweichend vom Klang mit Orthographemen verschriftet. Die 10 Prozent beziehen sich auf Laute, nicht auf Wörter. Bei den Wörtern, die ja aus mehreren, manchmal vielen Lauten bestehen, stimmt die Verteilung nicht mehr, sie könnte umgekehrt sein. Einen sinnvollen Text zu schreiben, der nur Wörter mit Basisgraphemen, also keine Rechtschreibbesonderheiten enthält, ist sehr schwierig. Aber der Lehrplan sieht vor, dass so bald wie möglich eigene Texte geschrieben werden. Wenn die Lehrerkräfte dann die Fehler, die sich zwangsweise ergeben, korrigieren, was zumindest der bayerische LehrplanPLUS vorsieht, dann droht die Systematik verlorenzugehen. Wenn zu viele Fehler korrigiert werden, entsteht Chaos im Gehirn. Zudem sind reine Rechtschreibübungen verpönt. Im bayerischen LehrplanPLUS steht dazu auf Seite 33:
„Rechtschreibübungen finden nicht isoliert und ohne Anwendungsbezug statt, sondern sind eingebunden in sinnvolle Kontexte wie das Verfassen und Überarbeiten eigener und gemeinsamer Texte. Die Lehrkraft weist bereits im Anfangsunterricht auf normgerechte Schreibungen hin.“
Wie diese Passage in den Lehrplan kam, das verstehe ich überhaupt nicht. Ohne gezieltes Üben geht es nirgends, schon gar nicht bei der Rechtschreibung. Bei meinen Schülern, die viele Rechtschreibfehler machen, konzentriere ich mich auf eine Fehlerart. Fehler, die andere Rechtschreibthemen betreffen, lasse ich außen vor. Das hat mich zuerst viel Überwindung gekostet. Aber nur so erziele ich Erfolgserlebnisse bei meinen sehr schwachen Rechtschreibschülern. Beispiel Großschreibung: Wenn in einem Text nur ein Nomen kleingeschrieben, aber ansonsten alle Satzanfänge und weitere 12 Nomen großgeschrieben sind, wird das Kind belobigt, auch wenn noch geschätzte 20 sonstige Rechtschreibfehler im Text sind. Die bleiben unkommentiert. Dieses Vorgehen beruht auf meinem Lernprinzip: Vereinfachen, Wiederholen, Vertiefen. Es ist ein langer Aufholprozess, wenn Grundkenntnisse zu spät und nebenher vermittelt werden müssen.
Während der Pandemie habe ich einen Mittelschüler gefördert. Er wollte auf den M-Zweig seiner Schule. Das hat man abgelehnt, weil seine Schrift unleserlich war. Ich habe mit ihm die Handschrift über Zoom geübt, und er hat sich schnell verbessert. Dabei habe ich ihn immer wieder kurze Sätze scheiben lassen und nur die Regel geübt, dass am Ende eines Satzes ein Punkt kommt und der Satzanfang großgeschrieben wird. Das hat 8 Übungsstunden lang nicht funktioniert. Die Handschrift hat seine ganze Aufmerksamkeit gefordert. Ab der neunten Stunde hat er diese Regel nie mehr vergessen.
Wenn die Schüler schon wesentlich besser in der Rechtschreibung sind, kann man sich um alle Fehler kümmern, sie systematisch ordnen und zum Beispiel Lernkarten mit einer Erläuterung erstellen, und mit diesen Lernkarten den Fehler isoliert und gezielt üben.
Lerntherapeuten habe ein ganzes Arsenal an weiteren Übungsmöglichkeiten zur Verfügung. Partnerschreiben ist eine beliebte Methode. Da schreiben zwei den gleichen Satz und korrigieren sich gegenseitig. Auch Lernspiele können, abhängig vom Kompetenzstand der Schüler, sinnvoll eingesetzt werden.
Rechtschreibförderung ist meist nicht das Aufpäppeln fauler oder begriffsstutziger Schüler. Rechtschreibtrainer und Lerntherapeuten müssen das nachholen, was an Gründlichkeit und Systematik gegenüber der früheren Lehre verloren ging. Manche meiner Schüler haben bei der Rechtschreibung nur Chaos im Kopf. Nichts ist gefestigt.
Das Anwenden von Regeln und das Berücksichtigen von Ausnahmen ist für die Kinder anstrengender als die frühere Methode, bei der sich die Rechtschreibung durch Abschreiben und Wiederholen einprägte. Nebenbei übte man eine flüssige Handschrift ein. Dass heute schon sehr früh eigene Texte zur Erhöhung der Schreibmotivation und zur Entwicklung der Kreativität in Druckschrift geschrieben werden, ist langfristig für die Kinder von Nachteil. Die logische Reihenfolge in der Lehre stimmt nicht mehr.
Wenn man in der Grundschule mit vielen Rechtschreibregeln arbeitet, dann sollte man wenigstens nach Comenius konsequent vom Einfachen zum Besonderen vorgehen. Dazu müsste auch der Lehrplan überdacht werden.
Die Rechtschreibung befindet sich schon lange auf Talfahrt. Langsam dämmert es in den Ministerien, dass man etwas tun muss. Die Rechtschreibung in allen Fächern angemessen zu bewerten, was vor Kurzem mit einem Erlass des bayerischen Kultusministeriums angekündigt wurde, wäre als erster Schritt wenig hilfreich. Aber immerhin gibt es in Bayern jetzt eine PISA-OFFENSIVE. Wir dürfen gespannt sein, was daraus wird.
November 2024 – Siegbert Rudolph
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Siegbert Rudolph
Ehrenamtlicher Lese- und Rechtschreibtrainer
Oberasbach | Deutschland
Ehrenamtlicher Lese- und Rechtschreibtrainer, im bezahlten Arbeitsleben Vorstand für Service und Vertrieb bei DATEV eG
Eigene Plattform – der-lesekoch.de - für alle, die sich mit Lese- und Rechtschreibförderung beschäftigen
Training mit mehr als 120 Kindern, meist Legasthenikern
Zurzeit Begrenzung auf Online-Lese--Förderung weniger Kinder sowie Online-Beratung von Eltern, Lesepatenschulungen, Elternabende und Vorträge an Schulen