Leseförderung – Nicht warten, sofort starten!

Dezember 14, 2024
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Wer schreibt hier: Siegbert Rudolph

von Der Lesekoch

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Ich höre und lese immer wieder, dass Eltern lange auf einen Test ihres Kindes und eine Diagnose warten, um eine Förderung beginnen zu können. Der Test eines Kindes in der zweiten Klasse, den ich gerade durchgeführt habe, veranlasst mich, diesen Blog zu schreiben. Wir schauen uns drei Praxisfälle an und was die Wissenschaft zur Frühförderung meint.

Warum warten viele Eltern ab

Zuerst aber frage ich mich, warum so oft auf eine Diagnose gewartet wird. Als ich vor 13 Jahren begann, einer Legasthenikerin, einem Mädchen aus der achten Klasse einer Mittelschule, das Lesen beizubringen, hat man mich mehrmals gewarnt und gefragt, ob ich das überhaupt dürfe. Legasthenie wäre doch eine Krankheit, sagte man mir.

Mich kümmert das bis heute nicht, auch wenn die Legasthenie im internationalen Krankheitsverzeichnis der Welt (IDC) aufgeführt ist. Im Internet findet man zum neuen IDC 11 eine Zusammenfassung von Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne, Psychosomatik und Psychotherapie, LMU Klinikum, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie:

„Die ICD-11 bedeutet für die Diagnostik und Klassifikation der Lese-, Rechtschreib- und der Rechenstörung sowohl Veränderung in dem Störungsbegriff als auch in den diagnostischen Kriterien. Die ICD-10 hat diese Störungen als schulische Entwicklungsstörungen klassifiziert, in der ICD-11 werden diese Störungen als Lernstörungen in der Gruppe der „neurodevelopmental disorders“ zusammen mit der ADHS, Depression, Autismus, Tourette-Syndrom und Schizophrenie zusammengefasst. Eine wesentliche Veränderung ist die Klassifikation einer isolierten Lesestörung und die Erweiterung der Rechtschreibstörung als Störung des schriftsprachlichen Ausdrucks. Die diagnostischen Kriterien erhalten nach wie vor das IQ-Diskrepanzkriterium, das sowohl in der Praxis als auch durch die Forschungsergebnisse nicht mehr unterstützt wird.“

Da kann man als Eltern schon Angst bekommen, etwas falsch zu machen. Solange die Legasthenie als Krankheit propagiert wird, ist das Zögern vieler Eltern verständlich. Sie wollen nichts falsch machen. Oft haben sie auch keine Vorstellung davon, wie sie helfen könnten. 

Ich habe inzwischen schon mehr als 120 Schüler gefördert, und die waren überwiegend Legastheniker. Je früher man mit der Förderung beginnt, desto leichter geht es voran. Und was man am Anfang tun muss, das erfordert in erster Linie Einfühlungsvermögen und Geduld. Schwierig, langwierig und vielleicht auch sehr teuer wird es erst, wenn man zu lange wartet. Im Normalfall können Eltern sehr gut helfen. Aber ich sehe auch, dass es dabei manchmal emotionale und fachliche Überforderung gibt.

Es reicht nämlich nicht, einfach mehr zu üben. Wenn auf einem zu hohen Niveau oder mit ungünstigen Methoden gearbeitet wird, ist das kontraproduktiv. Es kommt nicht darauf an, viel zu üben, sondern richtig zu üben. Und das heißt in erster Linie, dem Kind zu Erfolgserlebnissen zu verhelfen. Bei vielen Kinder muss man mit Texten üben, die eine oder zwei Klassenstufen zurück liegen.

Abwarten heißt, Zeit zu verlieren. Der Abstand zur Klasse vergrößert sich. Die anderen Kinder bleiben ja nicht stehen. 

Meine erste Schülerin hat über den zweiten Bildungsweg noch ein Studium zur Designerin beginnen können. Es ist zwar nie zu früh für die Förderung, aber auch ein später Einstieg lohnt sich, erfordert aber großen Einsatz, hier 180 Stunden. 

Mit dem Thema Diagnose hat sich auch meine Kollegin Dina Beneken in einem Artikel auseinandergesetzt (Link am Ende des Blogs).

Beispiel 1 – Das Schwache-e

Mein Test-Kind aus der zweiten Klasse las im Test langsam, fast bedächtig, mit einigen Unsicherheiten und Fehlern. Was sofort auffiel: Das Kind betonte jedes e in der zweiten Silbe. Er zog diesen Laut immer künstlich in die Länge:

„Schlafen und essUn müssen wir alle, und zwar bis wir Opa oder Oma geworden sind.“ So hört sich das an. Im weiteren Verlauf des Tests kamen dann noch weitere Unsicherheiten dazu.

Mit der Frage, worauf diese Betonung zurückzuführen ist, beschäftige ich mich in einem Blog auf meiner Internetseite: Oft unbekannt – der Schwa-Laut.

Jetzt geht es mir um die Frage, warum diese Angewohnheit nicht schon früher erkannt und abgestellt wurde. 

Die Mutter meinte, sie hätte die Lehrerin schon auf einen Förderbedarf für ihr Kind angesprochen. Die Lehrerin habe dazu aber gesagt, dass es noch viel schwächere Kinder gäbe, um die sie sich kümmern müsse. Das glaube ich sofort! Aber, als mein Test-Kind damit begonnen hat, das e in der zweiten Silbe fälschlicherweise zu betonen, da hätte man in der Schule oder zu Hause eingreifen können. Das wäre ganz einfach gewesen. Man nimmt ein paar passende Wörter her und übt. Zum Beispiel so:

Hase Nase Vase Base böse usw.

leben geben neben heben streben usw.

Zuerst werden ein paar Wörter vorgelesen, dann wiederholt das Kind. Wenn es nicht funktioniert, wird nochmals vorgelesen, evtl. nur die kritischen Wörter. Zum Schluss wird auf einzelne Wörter gezeigt, die gelesen werden sollen.  

Wahrscheinlich reichen zu Beginn zwei oder drei kurze Übungseinheiten, und das Problem ist beseitigt. Jetzt wird viel mehr Zeit gebraucht, weil sich der Fehler zur Angewohnheit geworden ist. Geübt wird so wie oben beschrieben, nur eben öfter.Übungsbeispiel aus meinem Ordner Symptome/Häufig falsch:

Die Abbildung zeigt die Übungen e-Schwa 01 und 02, die Übungen bestehen jeweils aus mehreren Seiten.

Zusätzliches Tandem- und Dialoglesen sind hier ebenfalls von Nutzen, wobei ich grundsätzlich empfehle, immer wieder das Kind auch allein wiederholen zu lassen.

Beispiel 2 – Buchstaben aneinandergereiht statt Text gelesen

Einmal bekam ich im April, also schon ziemlich weit in der ersten Klasse, einen Schüler zugeteilt, der keine zwei Buchstaben zusammenschleifen konnte. 

So hörte sich sein Lesen beim ersten Test an!

Ich habe mit diesem Kind Silben gelesen, zum Beispiel: ma me mi mo mu usw. 

Silbenteppich aus meinem Ordner Am Anfang/Silben/2 Buchstaben

Ich habe mit meinem Schüler in einer Übungseinheit drei bis fünf Zeilen mit Silben geübt. Ich las ein paar Silben vor, er hat wiederholt. Dann deutete ich auf einzelne Silben, die das Kind wiederholen musste. Und ich las mit ihm ganz einfache Texte mit vielen Wiederholungen, zum Beispiel meine Lesepyramiden aus dem Ordner Am Anfang/Texte/Lesepyramide 01

Auch hier: Zuerst las ich, dann mein Schüler. Dann kamen Silben mit drei Lauten und etwas anspruchsvollere Texte, bei denen auch gleich das Textverständnis kontrolliert werden konnte, zum Beispiel mit meinen Witzeübungen.

Witzeübung aus dem Ordner Klasse 2+/Zwei Witze/Datei Fußball 02

Am Ende des Jahres hatte der Junge den Rückstand aufgeholt. Aber, er hat fast ein halbes Schuljahr verloren. Wenn sich jemand ganz am Anfang um seine Leseprobleme gekümmert hätte, hätte er gar keinen Rückstand aufgebaut.

Beispiel 3 – Es wird geraten

Bei Kindern, die ich zur Leseförderung übernehme, stelle ich oft fest, dass, um flüssig zu lesen, geraten wird. Besonders gefährlich ist es, wenn diese Rateergebnisse nicht sinnentstellend sind. Das Kind versteht den Text und hat Erfolg. Manche Pädagogen meinen, dass man das nicht kritisieren, sondern belobigen solle, denn das Kind habe ja richtig mitgedacht. Ich erkenne das Mitdenken an, bestehe aber auf genauem Lesen, denn wenn die Texte anspruchsvoller werden, wird zunehmend sinnentstellend geraten. 

Ich war, als ich noch bezahlt arbeitete, in einem großen Unternehmen beschäftigt und treffe immer wieder auf ehemalige Kolleginnen und Kollegen, die wissen wollen, auf was sie achten müssen, wenn die Kinder oder Enkel das Lesen lernen. Mein wichtigster Rat ist, darauf aufzupassen, dass das Kind tatsächlich das liest, was auf dem Papier steht. Wenn man die Ratetechnik im Anfangsstadium erwischt, ist es viel einfacher, das Kind zum genauen Lesen anzuhalten. Es geht dann darum, langsam zu lesen. Langsam und richtig ist besser als schnell und falsch, das ist meine Devise. Die Geschwindigkeit kommt mit der Übung.

Die Ratetechnik entsteht oft durch das Verlangen, schneller lesen zu können, als es die Fertigkeit zulässt. Dann muss man das Kind steuern. Steuern kann man das Kind mit einem Leselineal, mit dem man immer nur ein Wort freigibt, oder man geht in der zu lesenden Geschwindigkeit mit dem Finger unter dem Text entlang. In meinem Übungssystem kann man die Anzeige des Textes an die Fertigkeiten des Kindes anpassen. Dazu habe ich in PowerPoint kleine Programme, sogenannte Makros, eingebaut. Damit hat man quasi ein digitales Leselineal. (Siehe Link unten!) Wichtig ist, dass sich das Kind auf das Wort konzentrieren kann, das zu lesen ist. Mit einer Wiederholung des ganzen Satzes oder später eines Absatzes wird auch das flüssige und betonte Lesen verbessert. Auch hier: Im Bedarfsfall schwierige Passagen vorlesen. Fördern, nicht quälen! Link zu einem Video 

Drei hilfreiche Übungen ergänzen viele meiner Übungsdateien:

Die Abbildung zeigt eine Seite aus der Witzeübung von oben! Man sieht hier das Prinzip meiner Übungen: Der Text wird variantenreich in mehreren Übungen wiederholt. 

Bei der Übung Du bist der Lehrer sage ich meinen Schülern, dass Raten sinnlos ist. Sie müssen genau hinschauen, um den Fehler zu entdecken.

Wörterschlangen kann man nicht mit der Ratetechnik erschließen. Man ist gezwungen, von rechts nach links den Text zu lesen.

Bei Schüttelsätzen ist es nicht möglich, zu erraten, was als nächstes kommt. Auch hier muss genau hingeschaut werden. Der richtige Satz wird zum Schluss gelesen.

Was sagt die Wissenschaft

Im Februar 2019 besuchte ich die Fachtagung „Lese- und Rechtschreibstörung – Neue Erkenntnisse und Herausforderungen zur Diagnostik und Förderung“ in München (LMU). Der Fachvortrag von PD Dr. Kristina Moll von der LMU war für mich der Höhepunkt der Veranstaltung. Hier meine Kurzfassung zu einem Projekt, über das Frau Moll in ihrem Vortrag berichtete:

Es ging um ein sechswöchiges Projekt. Daran haben 55 schlecht lesende Erstklässler teilgenommen. 29 Kinder erhielten dreimal wöchentlich 20 Minuten Training in der Buchstaben-Lautzuordnung, ein Silbentraining und ein Lesetraining mit einfachen Wörtern. 26 Kinder waren die Vergleichsgruppe und trieben in der gleichen Zeit nur Sport. Das Ergebnis war, dass sich die Leseschwäche der 29 Kinder deutlich verringert hat. Sie haben ihren Rückstand praktisch aufgeholt. Als Fazit betonte Frau Moll, dass eine frühe, spezifische Leseförderung unbedingt sinnvoll ist. 

Für mich war dies nichts Neues. Aber ich dachte mir, dass ein solches Ergebnis eines wissenschaftlichen Projektes die Verantwortlichen vielleicht eher beeindrucken könnte als die Erfahrung von Praktikern. Ich habe Frau Moll bei einer späteren Veranstaltung gefragt, was aus ihrem Projekt geworden ist. Sie meinte, dass es im Schulsystem wohl Umsetzungsschwierigkeiten bzw. andere Prioritäten gäbe.

Als ehemaliger Manager kann ich da nur traurig den Kopf schütteln. Was könnte man hinten einsparen bzw. gewinnen, wenn man zu Beginn des Leselernprozesses ein bisschen mehr Flexibilität zeigen würde. Man müsste den Lehrkräften mehr Kompetenz zutrauen. Sie sehen als erste, bei welchen Schülern es hakt. Und sie könnten dann Fördermaßnahmen anstoßen, mit Lesepaten oder Förderlehrern oder Lerntherapeuten, mit denen die Schule zusammenarbeitet. Dafür bräuchte es Zeit in der Schule für die Organisation und – oh weh – ein Budget.

Frühförderung hat keine Lobby! Immerhin gibt es in der Politik erste Maßnahmen, den Abwärtstrend bei der Lesekompetenz zu bremsen. Dazu musste die Zahl der betroffenen Schüler über rund 15 Jahre von 10 auf 25 Prozent steigen. Verbindliche Lautlesezeiten, Aufgreifen alter, bewährter Methoden wie dem Chorlesen, verpflichtende Sprachtests im vorletzten Kitajahr sind Beispiele für längst überfällige Maßnahmen. Abzuwarten bleibt, ob besonders für die letzte Maßnahme es auch Geld und Personal für die Durchführung der Tests und für Fördermaßnahmen geben wird. Dann wird man sehen, ob es die Politik ernst meint.  

Fazit – Eltern sind gut beraten, wenn sie zu Beginn des Leselernprozesses aufmerksam ihr Kind beobachten und bei auftretenden Schwierigkeiten sofort helfen oder sich Hilfe holen. Warten vergrößert den Rückstand des Kindes und verlängert den zusätzlichen Übungsaufwand! 

Ich wünsche viel Erfolg!

Dezember 2024 – Siegbert Rudolph

Legasthenie und IDC 11 https://econtent.hogrefe.com/doi/abs/10.1024/1422-4917/a000791?journalCode=kij 

Legasthenie – braucht Dein Kind eine Diagnose? https://lerntherapie-beneken.de/dyskalkulie-diagnose-ja-oder-nein 

Hörbeispiel zum Schwachen-e

Blog: Oft unbekannt – der Schwa-Laut: https://der-lesekoch.de/oft-unbekannt-der-schwa-laut/ 

Hörbeispiel Buchstaben statt WörterVideo elektronisches Leselineal: https://wwwderlesekochde.h5p.com/content/1292449374041540307

Siegbert Rudolph

Wer schreibt hier?

Siegbert Rudolph

Ehrenamtlicher Lese- und Rechtschreibtrainer

Oberasbach | Deutschland

Ehrenamtlicher Lese- und Rechtschreibtrainer, im bezahlten Arbeitsleben Vorstand für Service und Vertrieb bei DATEV eG

Eigene Plattform – der-lesekoch.de - für alle, die sich mit Lese- und Rechtschreibförderung beschäftigen

Training mit mehr als 120 Kindern, meist Legasthenikern

Zurzeit Begrenzung auf Online-Lese--Förderung weniger Kinder sowie Online-Beratung von Eltern, Lesepatenschulungen, Elternabende und Vorträge an Schulen

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